Thema dieses Beitrags ist der Aufbau und die Nutzung einer digitalen Forschungsumgebung zur Analyse und Visualisierung textueller, individueller und gruppenbasierter Raumwahrnehmung und Raumordnung der Stadt Rom im ersten vorchristlichen Jahrhundert. Neben einer grundlegenden kurzen Einführung in die historische bzw. raumwissenschaftliche Fragstellung sollen insbesondere der Umgang mit unscharfen bzw. unsicheren räumlichen Daten sowie der technischen Umsetzung einer digitalen Forschungsumgebung, in der unterschiedlichste Daten und Anwendungen miteinander kombiniert werden können und so ein genuin digitaler hermeneutischer Prozess ermöglicht und dokumentiert werden kann, im Fokus stehen.
In den letzten Jahren haben die sich neu etablierenden Raumwissenschaften besonders für die Neuzeit ein Modell entwickelt, welches den historischen Raum von einem vermessbaren „euklidischen“ oder auch einem positivistisch erfassten Natur- bzw. Kulturraum unterscheidet. Es konnte herausgestellt werden, dass Raum nicht die Summe und Relation der Objekte zueinander, sondern dass er erst im Aneignungsprozess durch die historischen Akteure generiert wird. Raum kann also nicht mehr von seinem Inhalt getrennt angesehen werden, sondern fungiert als dessen Ordnungsgefüge [PARNREITER 2013 S. 46] oder wie Ernst Cassirer es bereits 1930 programmatisch in seinem Vortrag „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“ auf den Punkt gebracht hat, die Substantialität ist durch die Funktion, das „Was“ durch ein „Wie“ ersetzt worden [CASSIRER 2009/1931 S. 95]. In Bezug auf das Verhältnis von Geschichte und Raum bedeutet diese Öffnung des Raums vom Absolutum zum Betrachtungsgegenstand, a) dass die Vorstellung von Geschichte im Raum, bzw. der Raum als Behälter von Geschichte in eine Raum-Geschichte umgewandelt werden muss, b) dass es nicht Eine Raum-Geschichte, sondern eine Pluralität von Raum-Geschichten gibt, welche vom Standpunkt bzw. der Lebenswelt des Betrachters abhängig sind und c) dass innerhalb dieser historischen Raum-Ordnungen Platz für Widersprüche, Leerstellen und Ungereimtheiten bestehen darf, ja muss. Denn in der Konstitution dieses „Wie“, dieser Raum-Ordnungen der Lebenswelt, spielt neben der sensorischen Wahrnehmung die individuelle Erfahrung des bzw. der Wahrnehmenden ebenso eine Rolle wie auch das kollektive Gedächtnis der jeweiligen Gesellschaft [LYNCH 1960/2001 S. 13]. Ziel einer historischen Raumwissenschaft muss es also sein, diese Pluralität von Raum-Ordnungen in ihrer vernetzten Struktur zu erfassen und auf ihre individuellen und gruppenspezifischen Anteile hin zu untersuchen. Konventionelle historische Karten können für die Analyse dieser Prozesse nur eine Grundlage bilden, auf welcher die mentalen Karten der historischen Akteure aufbauen, die wiederum die Basis für das Handeln Letzterer darstellen.
Aus diesen grundlegenden Überlegungen zum Raum ergibt sich für eine Untersuchung der antiken Raumordnungen von Städten im Allgemeinen und der Stadt Rom im Speziellem als erstes Ziel der Aufbau der vermittelten Räume, aus den auf uns überkommen Quellen – in diesem Fall besonders den Texten. Zu Beginn müssen also, in dem hier vorgestellten Projekt vom lateinischen Autor Marcus Tullius Cicero (106-43v.Chr.) präsentierten Räume erfasst und dargestellt werden. Praktisch bedeutet dies zu fragen, welche räumlichen Objekte genannt werden, welcher Stellenwert ihnen zugemessen wird und wie sie zueinander in Verbindung gesetzt werden.
In einem zweiten Schritt muss ferner die Frage gestellt werden, welche individuellen Aneignungen und welche kollektiven Vorstellungen der Räume durch diese vermittelten Räume zutage treten und welchen Charakter diese besitzen. Handelt es sich um staatlich bzw. durch zentrale Akteure geplante, um alltägliche oder auch um symbolische Räume? Können diese klar voneinander getrennt werden oder überlagern bzw. bedingen sie sich und, sollte letzteres der Fall sein, auf welche Weise?
Die Quellenbasis für diese Analyse besteht in 1300 Nennungen von insg. 255 Raumobjekten der Stadt Rom in den Werken Ciceros, welche in einer relationalen Datenbank gesammelt und georeferenziert wurden. Ein zentrales Problem hierbei bestand in der Unschärfe der genannten Räume, da a) nicht alle Orte, die Cicero nennt, heute genau zu lokalisieren sind, b) die Nennungen, die der Autor macht, nicht immer exakt sind und c) manche Verortungen in der Zeit der Entstehung der Werke nicht mehr oder nur sehr vage bekannt waren (z.B. wenn sie sich auf die Zeit der Gründung Roms beziehen). Als Referenzdaten für eine räumliche Analyse wurden der archäologische Befund zur Stadt Rom in der späten Republik kartographisch aufgenommen sowie Nennungen bei für Cicero zeitgenössischen Autoren (Varro, Caesar, Sallust) und die historischen Daten zur Stadt Rom in der späten Republik.
Zentral für die Umsetzung eines solchen Ansatzes ist es, ein dynamisches kartographisches System aufzubauen, indem unterschiedlichste archäologische, philologische und historische Daten zusammengeführt und unter Nutzung verschiedenster Analyse- und Visualisierungswerkzeuge (kartographisch, netzwerkanalytisch, word-Clouds …) dynamisch miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Es bedarf hierfür einer digitalen Forschungsumgebung, in der unterschiedliche Medieninhalte miteinander über streng definierte Programmierschnittstellen kombiniert werden.
Einen Schlüssel für die Verbindung unterschiedlicher digitaler Analyseverfahren bei freier Manipulierbarkeit der Daten bildet die Webble-Technologie [TANAKA 2003], eine Schnittstellentechnologie, mit der versucht wird, philosophische Konzepte der Wissensevolution in innovativen Werkzeugen des Wissensmanagements umzusetzen. Webbles erlauben Nutzern, vorhandene Wissensressourcen, welche als Medienobjekte gekapselt – „gewrapped“ – sind, weiterzuverarbeiten und zu distribuieren. Benutzer können einzelne Medienobjekte durch direkte Manipulation, wie „drag“, „drop“, „copy“, „paste“, miteinander zu neuen Objekten kombinieren, ohne Programmierkenntnisse zu besitzen. Aus technologischer Sicht handelt es sich bei der Webble-Technologie um eine Middleware, die insbesondere für Web-basierte Anwendungen geeignet ist und die intuitive Verbindung von nahezu beliebigen Funktionen und Dienstleistungen erlaubt. Dies gilt für die Verbindung von Methoden der qualifizierenden Datenanalyse mit denen der Bildverarbeitung gleichermaßen wie etwa der Verbindung von GIS-basierten Visualisierungssystemen mit digitalen Methoden der Netzwerkanalyse. Die Webble-Technologie erlaubt die intuitive Kombination von Medienobjekten, die im Ergebnisse neue Sichten oder gar Einsichten repräsentieren können.