Das Forschungsprojekt “Digitale Materialität” des Schweizerischen Nationalfonds ist eine Kooperation des Digital Humanities Labs und des Kunsthistorischen Seminars der Universität Basel. Ziel dieses Projektes ist es, Verfahren zur digitalen Reproduktion von Kunstwerken zu entwickeln sowie bereits bestehende Methoden zu optimieren, um sie in der kunsthistorischen Forschung besser einsetzen zu können.
Ein Themenbereich, in dem diese Vorgehensweise erprobt wird, sind frühe experimentelle Druckgrafiken, die im 15. Jahrhundert entstanden sind. Sie sind Teil der Medienrevolution, die der Erfindung des Buchdrucks folgt. Anders als konventionelle Graphiken nutzen die experimentellen Drucktechniken Farb- und Reliefeffekte, um attraktiver und wertvoller zu wirken. Beides sind Oberflächeneigenschaften die sich nur schwer fotografisch aufnehmen lassen.
Zu diesen graphischen Experimenten gehören die sogenannten Teigdrucke (Mabbott, 1932; Bowman, 1985; Bertalan, 1993; Scheld, 2009). Sie bestehen aus mehreren übereinanderliegenden Schichten. Ein Papieruntergrund ist mit einer verformbaren Substanz bedeckt. Sie wurde mit einer dünnen Metallfolie überzogen, um den Eindruck zu erwecken, als sei Gold verwendet worden. In diesen mehrschichtigen "Teig" wurde eine Metallplatte gepresst, in die man zuvor das abzubildende Motiv graviert hatte. Die Oberfläche der Platte wurde für den Druckprozess mit schwarzer Farbe bedeckt. Dieses Schwarz übertrug sich beim Drucken auf den golden schimmernden Untergrund.
Solche Drucke sind sehr selten, ausgesprochen fragil und deshalb meist in schlechtem Zustand erhalten. Ihre Oberfläche ist an vielen Stellen abgebröckelt. Auch der metallische Glanz ist nur noch an wenigen Stellen sichtbar. Darum fällt es schwer, sich eine Vorstellung vom einst so filigranen, kostbar schimmernden Relief zu machen. Aufgrund der Oberflächenkomplexität wirken Teigdrucke auf konventionellen Fotografien unansehnlich, obwohl sie in Wirklichkeit einiges von ihrer faszinierenden Materialwirkung bewahrt haben.
Um diese interessanten Objekte besser reproduzieren zu können, verbindet das Projekt “Digitale Materialität” Komponenten aus der Fotografie und der Computergrafik, welche es ermöglichen, die materiellen Eigenschaften der Originale so abzubilden, dass sie mit der beobachtbaren Realität in einem überprüfbaren Zusammenhang stehen. Um das ursprüngliche Aussehen in der digitalen Domäne zu representieren, wird für die fotografische Aufnahme das sogenannte Reflection Transformation Imaging (RTI) eingesetzt (Malzbender, Gelb, Wolters, 2001; Mudge et al., 2008; MacDonald, 2015). Mit diesem Verfahren wird aus mehreren statischen Aufnahmen ein mathematisches Relexionsmodell gerechnet, welches erlaubt die Reflexionseigenschaften der Oberfläche eines Objekts interaktiv darzustellen. So wird es möglich, die Reflexe unter sich verändernder Beleuchtung verlässlich zu simulieren. Die grundsätzliche Methodik von RTI besteht im systematischen Aufnehmen von Fotografien unter unterschiedlichen Lichteinfallswinkeln. Dieses Aufnahme-Set dient als Datenbasis, um eine mathematische Funktion so zu parametrisieren, dass sie die physikalischen Gegebenheiten für jeden Ort (jedes Pixel) möglichst exakt wiedergeben kann. Das auf diese Weise generierte Modell kann anschliessend am Computer betrachtet werden, wobei sich das Aussehen des Objekts unter wechselnden Lichtsituationen interaktiv simulieren lässt.
Die erreichten Ergebnisse zeigen, dass RTI die Oberfläche, ihre Reflexionseigenschaften und den aktuellen Erhaltungszustand von Teigdrucken aussagekräftiger dokumentieren und darstellen kann, als konventionelle Fotografien. Insbesondere das feine dreidimensionale Relief der Teigdrucke lässt sich an RTI-Modellen besser nachvollziehen.
Im Rahmen des Basler Projekts wird das Verfahren aber nicht nur angewendet, sondern auch weiterentwickelt. Das konventionelle RTI Verfahren stösst bei Objekten mit kombinierten glänzenden und matten Oberflächen an seine Grenzen. Dies liegt am einfachen mathematischen Modell – im Normalfall eine einfache Parabel – sowie an der Tatsache, dass das selbe Modell für das ganze Bild verwendet wird, also nicht auf einen ggf. vorhandenen Materialmix eingegangen wird. Durch das Überlagen eines aus der Computergrafik stammenden Glanzmodells – z.B. Phong (Phong, 1975) oder Ward (Ward and Glencross, 2009) – kann dieses Manko behoben werden, um so dem Reflexionsverhalten unterschiedlicher Materialien Rechnung zu tragen. Die Weiterentwicklungen werden laufend von kunsthistorischer Seite begleitet, um zu bewerten, wie die verbesserten Modelle im Vergleich zu den bislang verwendeten Verfahren als neues Analyseinstrument für geisteswissenschaftliche Forschungen genutzt werden können.
Um schliesslich die im Projekt generierten digitalen Objekte der Forschung zur Verfügung zu stellen, werden sie in ein Virtual Research Environment (Rosenthaler and Subotic 2012, Carusi and Reimer, 2010) integriert. Zur Wiedergabe der Modelle setzen wir auf WebGL (https://www.khronos.org/webgl/). Die Verbreitung der Daten im Rahmen von Open Access Anforderungen wird durch eine standardisierte Schnittstelle (JSON, JSON-LD) realisiert.
Am Beispiel der Teigdrucke zeigt sich im Basler Projekt, wie Entwicklungen der Digital Humanities Voraussetzung für neue Forschungsfragen in den Geisteswissenschaften schaffen können. An die Stelle des erprobten Dokumentations- und Vermittlungsmediums der konventionellen Fotografie tritt mit RTI ein innovatives Verfahren. Es wird jedoch nicht nur zweckmässig eingesetzt, sondern muss anwendungsbezogen optimiert werden, um den hohen Ansprüchen kunsthistorischer Dokumentationspraxis gerecht zu werden. Gefordert sind nämlich nicht etwa multimediale sondern gänzlich neuartige Forschungsdaten, die andernfalls für wissenschaftliche Diskurse nicht verfügbar wären.
Hinzu kommt die Aufbereitung des Verfahrens für den Gebrauch in einer neuen, virtuellen Forschungsumgebung, die ihrerseits traditionelle Formen der wissenschaftlichen Vernetzung ergänzt. Dies geschieht unter anderem durch den Einsatz semantischer Technologien, die nur im digitalen Raum ihr Potential entfalten können. Die virtuelle Forschungsumgebung wird schliesslich in Kombination mit webfähigen Applikationen und Open Access-Schnittstellen zum Angelpunkt für eine dauerhafte Sicherung der digitalen Daten, die zugleich nutzbar und archivierbar gemacht werden.